Rheinisches Gold - Die Geschichte des Privatgleisanschlusses der Rheinkies-Baggerei Dr. Wolfgang Boettger in Birten (Teil 1: Geschichte)
Teil 1: Geschichte 1927 - 1956
Galerie
Teil 2: Betrieb
Vorbemerkung
Für die Verwendung der Archivalien aus dem Landesarchiv NRW gelten bestimmte Auflagen, u.a. ist die Größe begrenzt. Deshalb bleiben ggf. Details undeutlich; ich bitte um Verständnis. Die Archivalien dürften verlinkt (gerne!), aber nicht in andere Seiten eingebettet werden. Eine Veröffentlichung an anderer Stelle bedarf der Genehmigung durch die Landesarchivverwaltung.
I. Auftakt
Für diese Geschichte gibt es mehrere Anfänge. Der historische geht so: 1927 erhielt die Kiesgesellschaft Wesel von der Deutschen Reichsbahn die Genehmigung, ein Anschlussgleis vom Bahnhof Birten an der Boxteler Bahn an den Altrhein zu bauen. Dieser Anschluss bestand bis 1956. Die Kiesgesellschaft Wesel hatte inzwischen Namen und Eigentümer gewechselt, hieß Rheinkies-Baggerei Wesel Dr. Wolfgang Boettger Gmbh und der Transport von Sand und Kies auf der Schiene war nicht mehr rentabel.
Der zweite Anfang ist persönlicher Natur. Als ich in den achtziger Jahren auf dieses Anschlussgleis aufmerksam wurde, war ich vielleicht 14 Jahre alt und hatte gerade angefangen, mich mit der Geschichte der Eisenbahn in meiner Heimatstadt Xanten auseinanderzusetzen. Auf einem alten Messtischblatt aus den fünfziger Jahren, das ich in der Wanderkartensammlung meines Vaters gefunden hatte, war ein Gleis eingezeichnet, das fast hufeisenförmig vom alten Bahnhof Birten (Boxteler Bahn) zum Altrhein verlief und dabei die B 57 – die Bundesstraße von Xanten nach Moers - kreuzte. Zu sehen war davon nichts mehr.
Seitdem ging mir dieser Gleisanschluss immer mal wieder durch den Kopf. Dass dort vermutlich Sand und Kies abtransportiert wurden, lag nahe, weil das Gleis am Altrhein endete, gegenüber der riesigen Auskiesungsfläche der Bislicher Insel. Doch wer war der Betreiber? Wie wurden Wagen zugestellt und abgeholt? Wie kam es dazu, dass das Gleis in der Nähe des Bahnhofs Winnenthal an die Strecke Duisburg – Kleve angeschlossen war? Lauter Fragen, die ich damals nicht beantworten konnte.
Mehr als 30 Jahre später. Im Forum Historische Bahn auf Drehscheibe-Online las ich von einem Luftbildserver des Landes NRW, auf dem man mittels Luftbildern wie Marty McFly in die Vergangenheit reisen konnte. Darüber war natürlich auch das Anschlussgleis vom Bahnhof Birten zum Altrhein zu finden. Davon habe ich bereits berichtet. Die Aufnahmen vom Ende der zwanziger Jahre zeigten eine lange Wagenschlange im Gleisanschluss. Recherchen im Internet und ein Hinweis in Ralf Trosts Buch „Eine gänzlich zerstörte Stadt“ führten mich ins Landesarchiv NRW in Duisburg zur Reichsbahn-Akte des „Privatgleisanschlusses Kiesgesellschaft Wesel m.b.H.“ und zur zugehörigen Akte des Landesbevollmächtigten für Bahnaufsicht. Jetzt kann ich die Geschichte erzählen.
Und weil manchmal einfach Glück im Spiel ist, tauchte auch noch eine CD mit Bildern der Verladestelle auf, die mir ein Xantener Eisenbahnfreund zur Verfügung stellte. Alle Mitarbeiter/innen und Rentner/innen der Rheinkies-Baggerei Dr. Wolfgang Boettger bekamen die CD, als der Betrieb 2009 eingestellt wurde. Sie enthält Bilder aus Fotoalben und Zeitungsartikel, die von der Geschichte des Unternehmens erzählen. Die ehemalige Muttergesellschaft der Rheinkies-Baggerei Dr. Wolfgang Boettger hat mir freundlicherweise Nutzungsrechte eingeräumt, sodass ich diese Bilder hier auch zeigen kann.
II. Lage und Geschichte
Birten? Altrhein? Boxteler Bahn? Für alle, die nicht aus der Gegend sind, dürften das böhmische Dörfer sein. Das Dorf Birten liegt südlich von Xanten, zwischen dem Fürstenberg und dem Altrhein, einer Rheinschleife, die bei der Rheinbegradigung im 18. Jh. vom Fluss abgetrennt wurde. Auf der anderen Seite des Altrheins entstand durch die Rheinbegradigung im 18. Jh. die sog. Bislicher Insel. Eine Übersichtskarte - von der Karte, die ich im Fundus meines Vaters gefunden hatte - gibt es in diesem Beitrag. Durch Überschwemmungen und Flussverlagerungen seit der letzten Eiszeit befand sich unter der Bislicher Insel eine mächtige Sand- und Kiesschicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs der Hunger der Industrie nach Sand und Kies – nicht zuletzt durch die Erfindung des Stahlbetons – ins Unermessliche, sodass am Niederrhein immer mehr Baggerlöcher entstanden. Die Kiesgesellschaft Wesel erhielt Mitte der zwanziger Jahre die Konzession für den Abbau dieser Kiesvorkommen. Dazu wurde auf der Insel ein Betriebsgelände eingerichtet.
Anschluss an die Boxteler Bahn
Knapp einen Kilometer südlich des Altrheins befand sich der Bahnhof Birten an der Boxteler Bahn von Boxtel in den Niederlanden über Goch nach Wesel, betrieben von der privaten Noordbrabantsch-Duitse Spoorweg Maatschapij. Auf dieser Strecke verkehrten bis zum Ersten Weltkrieg internationale Züge, mit denen man von Vlissingen an der Oosterschelde über Goch und Wesel nach Berlin und St. Petersburg reisen konnte. 1925 übernahm die Deutsche Reichsbahn die Bahnanlagen auf deutscher Seite und betrieb die Strecke als Nebenbahn Wesel – Goch – Hassum. 1945 wurde die Strecke im Zuge der Schlacht um den Niederrhein an vielen Stellen zerstört und die Rheinbrücke bei Wesel gesprengt. In der Umgebung von Xanten blieb der Abschnitt zwischen dem Fürstenberg und dem Bahnhof Birten an der Provinzialstraße nach Moers (der heutigen B 57) unversehrt.
Der Wiederaufbau der Gesamtstrecke wurde wegen der nur noch geringen Bedeutung der Verbindung von Hassum nach Wesel und der schweren Schäden nach Kriegsende zunächst zurückgestellt und schließlich aufgegeben.
Zwischen Birten und Xanten-West verliefen die Boxteler Bahn und die Staatsbahnlinie Duisburg – Kleve parallel und durchquerten in einem gemeinsamen Einschnitt den Fürstenberg, der sich zwischen Xanten, Birten und dem Altrhein erhebt. Das wird für den Anschluss Rheinkies-Baggerei in der Nachkriegszeit noch von Bedeutung sein.
Für die Abfuhr von Sand und Kies in großem Stil war eine Bahnverbindung in den zwanziger Jahren unverzichtbar. Deshalb errichtete die Kiesgesellschaft Wesel am Altrheinufer gegenüber der Bislicher Insel eine Verladeanlage für Bahn und LKW, außerdem wurde dort eine Teersplit-Mischanlage gebaut. Sand und Kies wurden mit Leichtern über den Altrhein transportiert.
Die Bahnanlagen bestanden aus gut 900 Meter Anschlussgleis, das sich in zwei gut 300 Meter lange Gleise an der Verladestelle auffächerte, dem Sand- und Kiesbunker mit drei Abteilungen, der von einem Kran bedient wurde, der Verladeanlage und zwei Betriebsgebäuden. Im Landesarchiv NRW befindet sich in der Akte des Gleisanschlusses ein Gleisplan, dessen Reproduktionen ich mit einer Kantenlänge von 1000 Pixeln zeigen darf:
Gleisplan des Anschlusses Kiesgesellschaft/Rheinkies-Baggerei Wesel. Quelle: Landesarchiv NRW Duisburg (LAV NRW R), BR 1003 Nr. 4312.
Die beiden folgenden Bilder zeigen die Verladeanlage von West und Ost. Ein Vergleich der verschiedenen Bilder aus dem Album der Rheinkies-Baggerei Dr. Wolfgang Boettger (siehe Galerie) zeigt, dass der Verladebunker vermutlich anfangs rechts vom äußeren Gleis gestanden hat. Erst später wurde er über das Gleis versetzt und dabei das linke Bein entfernt. Abgestützt wurde der Bunker dann durch eine Strebe zum Gebäude der Teersplitmischanlage.
Zum Verschub der Waggons besaß die Kiesgesellschaft eine eigene Dampflok, einen kleinen Rotzkocher aus dem Hause Orenstein & Koppel (Bn2t, Fabrik-Nr. 10418).
Sand und Kies wurden nicht nur per Bahn und LKW von der Verladestelle Birten abtransportiert, sondern außerdem seit 1929 per Seilbahn zwei Kilometer quer über die Bislicher Insel zum Rhein gebracht und dort auf Schiffe verladen.
Ab Mai 1928 rollten die Räder im Anschluss. Da standen die Auskiesungsarbeiten noch ganz am Anfang, die ausgebaggerte Fläche betrug (mit dem Flächenmaß-Werkzeug des Luftbildservers gemessen) ca. 15.000 m². Acht Jahre später waren es rund 340.000 m².
In diesen Jahren muss im Gleisanschluss viel Betrieb gewesen sein. Das Luftbild, das vermutlich 1926 aufgenommen worden ist, zeigt dort eine Schlange von ca. 25 (durch eine Störung im Bild lässt es sich nicht genau sagen) offenen Waggons. Das scheint kein Einzelfall gewesen zu sein. In der Akte des Gleisanschlusses im Landesarchiv finden sich dazu jedoch nur vereinzelte Angaben, nämlich dann, wenn die Kiesgesellschaft und die Reichsbahn um die Höhe der Gebühren für den Anschluss stritten.
Auf und Ab zwischen Weltwirtschaftskrise und Nachkriegszeit
Die Wirtschaftskrise Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre führte dazu, dass der Sand- und Kiesumschlag auf die Bahn einbrach, wie verschiedene Schreiben in der Akte zeigen. Von der Wirtschaftsförderung der Nationalsozialisten profitierte dann auch die Kiesgesellschaft. In einem Schreiben aus dem März 1938 ist die Rede von 2.600 Wagenladungen, die 1937 abgefertigt worden seien. Für 1938 rechnete man sogar mit 7.000 Wagenladungen (ca. 22 pro Tag) für den Reichsautobahnbau. Über das Aufkommen während der Kriegsjahre gibt die Akte keine Auskunft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entschied die Deutsche Reichsbahn, die zerstörten Anlagen der Boxteler Bahn vorerst nicht wieder aufzubauen. Auch die Strecke Duisburg – Kleve war zwischen Xanten und Winnenthal unterbrochen. Deutsche Truppen hatten u.a. die Brücke über die Boxteler Bahn gesprengt, Bomben hatten Schäden am Bahndamm verursacht.
Um dennoch möglichst schnell den durchgehenden Betrieb von Duisburg nach Kleve wieder aufnehmen zu können, entschloss sich die Reichsbahn, den zerstörten Damm zu umgehen. Dazu konnte sie provisorisch das Anschlussgleis der Luftmunitionsanstalt in der Hees, dem Waldgebiet bei Xanten, nutzen. Dieses Gleis verlief südlich des Fürstenbergs parallel zur Strecke Duisburg – Kleve und zur Boxteler Bahn nach Winnenthal. Am Ausgang des Fürstenberg-Einschnitts wurde das Streckengleis Duisburg – Kleve auf das „Muna-Gleis“ verschwenkt und in Winnenthal wieder auf die ursprüngliche Trasse zurückgeführt.
Die Kiesgesellschaft, die seit 1944 als Rheinkies-Baggerei Wesel Dr. Wolfgang Boettger GmbH firmierte, war weiterhin auf die Abfuhr von Sand und Kies per Bahn angewiesen. Daher beantragte die Gesellschaft im Oktober 1947 beim Reichsbahnbetriebsamt Kleve, das von Birten kommende Gleis der Boxteler Bahn in der Nähe des Bahnhofs Winnenthal provisorisch durch eine Weiche an das „Muna-Gleis“ anzuschließen. Die Weiche würde die Rheinkies-Baggerei zur Verfügung stellen.
Ende 1948 war der Anschluss wieder an das Schienennetz angeschlossen. Nach einer „Generalüberholung“ bei der Firma Nimag in Duisburg-Meiderich konnte auch die werkseigene Dampflok wieder in Betrieb genommen werden. Die Rheinkies-Baggerei rechnete mit täglich 15 – 20 Waggons, doch diese Zahlen wurde nicht mehr erreicht. Das lag zum einen daran, dass die erhofften Aufträge vonseiten der Reichs- bzw. Bundesbahn ausblieben. Zum anderen stiegen die Kosten für den Gleisanschluss erheblich an (Details in Teil 2: Betrieb), weil die Bahn der Rheinkies-Baggerei auch die Nutzung des Gleises der Boxteler Bahn von der Weiche bei Winnenthal an in Rechnung stellte. Mit einem Schlag war der Betrieb unwirtschaftlich geworden.
1949 wurden 563 Waggons abgefertigt. In den folgenden Jahren sank die Zahl der Wagenladungen kontinuierlich. Für 1953 nennt die Akte noch 109, 1955 und 1956 wurden keine Waggons mehr abgefertigt.
Als sich 1956 die Wiederherstellung des Bahndammes zwischen Winnenthal und Xanten abzeichnete, kündigte die Rheinkies-Baggerei ihren Gleisanschluss. Die Bundesbahndirektion Köln nahm die Kündigung an und schrieb am 17. April 1956 an die Rheinkies-Baggerei:
„Wir bitten, die Ihnen gehörige Anschlussweiche aus dem ehemaligen Munagleis erst dann zu beseitigen, wenn wir unseren Betrieb auf der wiederhergestellten Strecke Duisburg – Kleve eröffnet haben und somit das Munagleis nicht mehr benötigen. Auf die Schließung der entstehenden Gleislücke im Munagleis wird verzichtet.“
Ein Jahr später hält eine Aktennotiz das Ende der Geschichte fest:
„Im Beisein des Gf. [Geschäftsführers] Fleischer der Fa. Rheinkies Baggerei Wesel am 9.4.57 festgestellt, daß Anschlußanlagen im Bereich der DB beseitigt sind.“
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